Eine Einführung in die Klassifikation psychischer Erkrankungen
Wer im Gesundheitsbereich tätig ist, hat täglich mit ihnen zu tun, auch im psychosozialen Bereich sind sie von großer Bedeutung. Klassifizierungssysteme helfen Fachpersonal dabei, Symptome einzuordnen und Diagnosen zu stellen
Im psychosozialen Bereich sind Sätze wie „…diagnostiziert mit F33 laut ICD-10“ Alltag. Eine Diagnose ist für Personen mit psychischen
Erkrankungen wichtig, da sie mit ihr die Behandlung bekommen können, die sie wirklich brauchen – außerdem übernimmt die Krankenkasse gewisse Leistungen erst mit einer gültigen Diagnose.
Wer nicht professionell im Gesundheitsbereich tätig ist, sondern entweder selbst betroffen oder neu in der Branche, kann mit der Abfolge von Buchstaben und Zahlen nicht sofort viel anfangen.
Wobei es sich handelt, ist aber schnell erklärt.
Bei der ICD-10 handelt es sich um die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“
– in der zehnten Version. Obwohl es seit dem Jahr 2022 bereits eine 11. Version gibt, wird aktuell immer noch mit der Vorgängerin gearbeitet, da die Überprüfung und Einführung viel Zeit in
Anspruch nimmt.[1]
Die ICD-10: Ein Werk für alle Krankheiten
Die ICD wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlicht und besteht aus Codes, die jeweils für eine Krankheit stehen. Anzeichen und Symptome, auffällige Befunde, Beschwerden,
soziale Umstände und äußere Ursachen von Verletzungen oder Krankheiten werden in der Auflistung ebenfalls berücksichtigt, sodass auch verschiedene Formen einer Erkrankung, Störung oder Verletzung
mit eingeschlossen sind.
Als Beispiel für das oben genannte Beispiel ein Auszug:
F33 Rezidivierende depressive Störung
Hierbei handelt es sich um eine Störung, die durch wiederholte depressive Episoden (F32.-) charakterisiert ist. In der Anamnese finden sich dabei keine unabhängigen Episoden mit gehobener Stimmung und vermehrtem Antrieb (Manie). Kurze Episoden von leicht gehobener Stimmung und Überaktivität (Hypomanie) können allerdings unmittelbar nach einer depressiven Episode, manchmal durch eine antidepressive Behandlung mitbedingt, aufgetreten sein.
Die schwereren Formen der rezidivierenden depressiven Störung (F33.2 und .3) haben viel mit den früheren Konzepten der manisch-depressiven Krankheit, der Melancholie, der vitalen Depression und der endogenen Depression gemeinsam. Die erste Episode kann in jedem Alter zwischen Kindheit und Senium auftreten, der Beginn kann akut oder schleichend sein, die Dauer reicht von wenigen Wochen bis zu vielen Monaten. Das Risiko, dass ein Patient mit rezidivierender depressiver Störung eine manische Episode entwickelt, wird niemals vollständig aufgehoben, gleichgültig, wie viele depressive Episoden aufgetreten sind. Bei Auftreten einer manischen Episode ist die Diagnose in bipolare affektive Störung zu ändern (F31.).
Inkl.: Rezidivierende Episoden (F33.0 oder F33.1):
• depressive Reaktion
• psychogene Depression
• reaktive Depression
Saisonale depressive Störung
Exkl.: Rezidivierende kurze depressive Episoden (F38.1) [2]
Das Gesamtwerk kann als ein Lexikon für Erkrankungen verstanden werden. Das Ziel der ICD ist es, alle Krankheiten und Gesundheitsprobleme aufzulisten und ihnen Symptome und Ursachen zuzuordnen. So wird dem medizinischen und psychologischen Fachpersonal aller Mitgliedsstaaten der WHO im Diagnoseprozess geholfen.
Klassifizierungssysteme helfen bei der Diagnostizierung einer Erkrankung
Berücksichtigung kultureller Unterschiede
Auch wird sichergestellt, dass es ein genormtes Verständnis für einzelne Erkrankungen gibt, sodass eine Person in verschiedenen Mitgliedsländern nicht auch zwei unterschiedliche Diagnosen erhalten würde. [3]
Grundsätzlich hat die ICD-10 22 Kapitel. Der genaue Umfang variiert in den Mitgliedsstaaten teilweise, da nationale Anpassungen vorgenommen werden dürfen.
Das 5. Kapitel der ICD beschäftigt sich mit Psychischen Störungen und Verhaltensstörungen und besteht aus beinahe 100 Codes in 11 Untergruppen.
DSM-5 – eine Alternative der USA
Neben der ICD hat sich ein weiteres Klassifikationssystem von psychischen Erkrankungen in der Psychiatrie etabliert. Der DSM-5 (diagnostischer und statistischer Leitfaden
psychischer Störungen, fünfte Version) wird ebenfalls zur Diagnostizierung herangezogen und unterscheidet sich in einigen Punkten vom ICD-System.
Der DSM wurde von Psychiater:innen in den USA für die Nutzung in den USA erstellt, während die WHO mit der ICD von Beginn an eine breitere, internationale Nutzung anstrebte. Aus diesem
Grund wurden in der ICD einige Formulierungen so gehalten, dass sie interkulturell verständlich und nützlich sein würden.
Der DSM hingegen ist viel genauer in seinen Diagnosekriterien und führt auch geschlechtsspezifische Unterschiede an. Das macht den DSM für die psychiatrische Forschung besonders
interessant.[4]
Kritik
an den anerkannten Klassifizierungssystemen
Sowohl die internationale ICD-10 als auch der US-amerikanische DSM-5 wurden bereits vermehrt kritisiert.
So sagte etwa der Psychologe Johannes Zimmermann in einem Interview im Jahr 2021 mit dem Magazin „Spektrum der
Wissenschaft“:
„Es gibt nicht nur Ja oder Nein, nicht nur Menschen mit oder ohne Depression. Anders als bei körperlichen Erkrankungen orientiert sich die Diagnose einer psychischen Störung daran, was der Patient oder die Patientin über das eigene Erleben und Verhalten berichtet und was man von außen beobachten kann. Es gibt keinen Bezug zu einer Ursache, wie bei einem Test auf ein Virus, sondern nur Oberflächenmerkmale. Diese Merkmale sind mehr oder weniger ausgeprägt, wir sagen auch: kontinuierlich verteilt. Reduziert man diese feinen Unterschiede auf binäre Kategorien, gehen Informationen verloren, und die Diagnosen sind weniger aussagekräftig.“
Die etablierten Klassifikationssysteme für Diagnosen werden u.a. dafür kritisiert, Zusammenhänge zwischen Symptomen und Diagnosen untereinander nicht zu berücksichtigen
Seiner Ansicht nach sei es nicht richtig, Menschen und ihre psychischen Probleme mithilfe von Codes zu kategorisieren. Zimmermann gehört einer Forschungsgruppe an, die sich mit dem Zusammenhang psychischer Störungen untereinander beschäftigt. Sie wollen ein neues Klassifikationssystem entwickeln, das anstatt von Kategorien mit Dimensionen und Schweregraden sowie Zusammenhängen zwischen einzelnen Störungsbildern arbeitet. [5]
Fazit
Aktuell gibt es zwei in der Wissenschaft in hohen Maßen anerkannte Klassifizierungssysteme für psychische Erkrankungen: Die ICD-10 und der DSM-5. In Österreich wird zur
Diagnostizierung einer Erkrankung die von der WHO herausgegebene ICD herangezogen, während der DSM vor allem in der psychiatrischen Forschung Anwendung findet.
Wie psychische Erkrankungen aktuell diagnostiziert werden, wird auch in Fachkreisen vermehrt diskutiert und kritisiert. Gewisse Forschungsgruppen und -richtungen beschäftigen sich schon jetzt mit Alternativen, zur Anwendung kommt es hierzulande aktuell noch nicht.
[2] vgl. https://www.sozialministerium.at/dam/jcr:695f578c-1905-4cd2-8553-68803658a1b0/ICD-10%2520BMSGPK%25202022%2B%2520%2520SYSTEMATISCHES%2520VERZEICHNIS.pdf&ved=2ahUKEwiolpSr6KiIAxWLB9sEHUbeBEYQFnoECAgQAQ&usg=AOvVaw0V5G3wICh5xV0wYvNuN9sk
[3] https://www.who.int/standards/classifications/frequently-asked-questions/importance-of-icd[4] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Diagnostic_and_Statistical_Manual_of_Mental_Disorders
[5] vgl. https://www.spektrum.de/news/eine-neue-ordnung-fuer-psychische-stoerungen/1923280
pro humanis
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