"Lasst die Betroffenen an eurer Lebensfreude teilhaben!"

 

Essstörungen sind komplexe psychische Erkrankungen, die teils schwerwiegende körperliche Folgeerscheinungen mit sich bringen. Für Menschen, die nicht betroffen sind, ist das Verhalten von Betroffenen oft unverständlich und löst Betroffenheit oder Unsicherheit aus. In diesem Interview spricht pro humanis mit Christine Brugger über die Begleitung von essgestörten Personen.


Christine Brugger ist Psychologin und Psychotherapeutin und übernimmt im Jahr 2025 die Leitung des LeLi-Tageszentrums in Graz, das auf die Therapie und Betreuung von Menschen mit Essstörungen spezialisiert ist.

 

Foto: Junge Frau mit einem Messband, das um ihr Gesicht geschlungen ist
Quelle: pexels

Du hast täglich mit Menschen mit Essstörungen zu tun und begleitest sie in ihrem Heilungsprozess. Was geht in der Begegnung mit einer betroffenen Person deiner Meinung nach gar nicht?


Beschämen oder Bloßstellen ist ein absolutes Tabu. Vor allem natürlich, wenn es bewusst passiert. Auch bewusst Verletzungen auszusprechen, geht nicht, oder die Betroffenen zu etwas zwingen zu wollen.

Natürlich kann es schnell gehen, dass sich jemand beschämt oder bloßgestellt fühlt, ohne, dass es die Absicht der anderen Person war. Manchmal passiert das in zwischenmenschlichen Begegnungen einfach, man tritt in Fettnäpfchen. Ich finde es wichtig, in Beziehung zu Menschen mit Essstörungen sehr achtsam zu sein, wie das ankommt, was man sagt. Und wenn eine Verletzung passiert, nicht zu gehen oder selbst beleidigt zu reagieren, weil man vielleicht missverstanden wurde.

Im Gegenteil sollte man sich zur Verfügung stellen und sagen, ja, du darfst beleidigt auf mich sein und ich entschuldige mich dafür, dich unabsichtlich gekränkt, beschämt oder verletzt zu haben. Die Beziehung ist deswegen nicht vorbei. Lass uns darüber reden und sehen, wie es jetzt weitergeht. Für viele Betroffene ist das eine neue und heilsame Erfahrung, dass da jemand ist, der wahrnimmt, dass etwas weh getan hat, es ernst nimmt und sich aufrichtig entschuldigen kann.


Über das  LeLi-Tageszentrum

Das LeLi-Tageszentrum wurde im Jahr 2021 gegründet und befindet sich im modernen Reininghauspark in Graz. Getragen wird es von der Organisation LebensGross, finanziert vom Gesundheitsfonds, dem Land Steiermark und dem Gesundheitsamt der Stadt Graz.
Das Angebot richtet sich an Personen zwischen 14 und 40 Jahren, die an den Essstörungen Anorexia Nervosa (Magersucht) oder Bulimia Nervosa (Ess-Brech-Sucht) erkrankt sind. Je nach Bedarf der betroffenen Person gibt es verschiedene Angebote, die in Anspruch genommen werden können.

So gibt es die Möglichkeit, bis zu fünfmal pro Woche in die Tagesstruktur zu kommen. Dabei werden die Betroffenen auch im Umgang mit Essen und beim Essen selbst begleitet. Allem voran ist das Tageszentrum ein sicherer Ort für Betroffene, an dem der Wiedergewinn an Lebensfreude und Selbstsicherheit im Vordergrund steht. Außerdem werden Psychotherapie sowie Achtsamkeits- und Skillstraining angeboten – alles kostenlos und freiwillig.

Auch außerhalb des Zentrums werden Betroffene unterstützt – etwa durch das Angebot der mobilen sozialpsychiatrischen Betreuung oder Online-Beratungen. Auch Angehörige werden durch das Personal von LeLi bei Bedarf unterstützt.


Wie geht man am besten damit um, wenn eine betroffene Person ihr eigenes Äußeres kommentiert? Zum Beispiel sagt: „Ich bin so dick.“

Ich kann hier nur meinen Zugang dazu teilen. Ich arbeite mit einer Grundhaltung der Neugier und versuche, diese auch in den betroffenen Personen zu wecken. Was siehst du? Was nimmst du wahr? Wo ist das, was du dick findest? Den Antworten der Betroffenen stelle ich dann auch das Fremdbild gegenüber, meine eigene Wahrnehmung. Ich sehe das nicht, wovon du sprichst. Ich sehe nicht, dass du dick bist und selbst wenn, ist das nicht wichtig. Ich sehe an dir… / Das mag ich an dir…
Und dabei muss man nicht nur über die äußeren Eigenschaften der Person sprechen.

Weiters finde ich es wichtig, zu vermitteln, dass Menschen unabhängig von ihrem Gewicht und Aussehen wertvoll und liebenswürdig sind.

Leider ist es vergebene Energie, zu versuchen, den Betroffenen ihre eigene Sicht komplett auszureden. Es liegt eine Körperschemastörung vor, die Betroffenen sehen ihre Körper nicht so, wie sie sind. Darüber zu diskutieren führt nur zu unnötigen Konflikten. Vielmehr kann man sagen: OK. So ist es für dich. Ich sehe etwas anderes. Und das kann man dann auch so parallel zueinander stehenlassen. Wenn es sein muss, immer und immer wieder.

 

Foto: Zwei Personen, eine ist traurig, die andere legt die Hand unterstützend auf ihren Rücken
"Menschen mit Essstörungen müssen lernen, dass sie unabhängig von ihrem Aussehen liebenswert sind"

 

Inwiefern profitieren Menschen mit Essstörungen von Sozialbegleitung?

Wir machen die Erfahrung, dass die allermeisten von denen, die zu uns kommen, in Beziehungen verletzt worden sind, manche auch tatsächlich traumatisiert. Verletzungen auf der Beziehungsebene können auch nur in Beziehungen heilen. Das ist unsere Einstellung dazu. Auch Verletzungen, die in anderen Beziehungen passiert sind als in dieser, können heilen, wenn du spürst, dass es auch anders verlaufen kann.

Ganz oft leben Menschen mit Essstörungen in der Isolation oder spielen in ihrem Sozial- und Berufsleben eine gewisse Rolle vor. Hinter dieser Rolle, im Prinzip eine Art Maske, sind sie aber allein. Und wir Menschen brauchen Kontakt und Beziehungen, um ein erfülltes Leben führen zu können.

 

Wie spricht man es an, wenn man eine Essstörung bei jemandem vermutet?

Da würde ich auch wieder meine eigene Wahrnehmung zur Verfügung stellen und in ein wohlwollendes Gespräch gehen. ‚Mir fällt auf, du hast total abgenommen. Fällt dir das auch auf?‘ ‚Mir fällt auf, du isst keine Süßigkeiten mehr. Fällt dir das auch auf?‘

Also quasi einen Realitätsabgleich durchführen, ohne zu werten. Man sollte niemanden damit überfallen zu sagen: ‚Du hast ein Problem, wir müssen da jetzt was machen.‘ Oder ‚Du musst mehr essen.‘ Insgesamt kann man zusammenfassen: Mit einer Haltung der Neugier und des Wohlwollens.

Dasselbe gilt für mich auch bei Personen, die an Binge Eating Disorder leiden. ‚Mir fällt auf, du kaufst große Mengen an Lebensmitteln und nach kurzer Zeit sind sie weg. Fällt dir das auch auf? Kann ich dich unterstützen?‘

Meistens kommt es, wenn man auf das gestörte Essverhalten angesprochen wird zu viel Scham. Die Betroffenen fühlen sich ertappt. Aber wenn es jemandem gelingt, nicht vorwurfsvoll zu sein, sondern zu transportieren, dass er sich sorgt und die andere Person unterstützen möchte, kann es trotzdem gutgehen.


Mögliche Anzeichen für das Vorliegen einer Essstörung finden Sie HIER.

 

Foto: Eine Frau sitzt auf der Couch und sieht traurig zu Boden, dahinter liegt ein Mann auf der Couch, vor ihnen am Couchtisch unberührte Teiller mit Essen
Wer selbst mit seinem Körper und Aussehen Probleme hat, sollte womöglich niemanden mit Essstörung begleiten

 

Viele Menschen sind unzufrieden mit ihrem Äußeren und versuchen vielleicht sogar mit der ein oder anderen Diät abzunehmen. Kann so jemand eine Person mit Essstörung begleiten?

In der Begleitung von Menschen mit Essstörung ist es wichtig, dass die begleitende Person mit sich selbst im Reinen ist. Wenn sie mit sich selbst hadert, kann das sehr schiefgehen. Personen mit Essstörungen sind oft hoch-perfektionistisch und haben hohe Leistungsansprüche an sich selbst. Für sie ist es am heilsamsten, wenn jemand anders Fehler macht und nicht perfekt ist oder es sein möchte. Sie müssen lernen, dass es normal ist, Fehler zu machen und nicht perfekt zu sein. Wenn ein:e Begleiter:in es selbst nicht aushält, nicht perfekt zu sein, kann sich das hochschaukeln und die Situation verschlimmern.

Auch so Aussagen wie ‚Ich esse heute nur einen Salat, ich habe schon so viel gegessen‘ oder ‚Ich esse nur einen Keks, weil ich eh schon genug auf den Hüften habe‘ sind ganz schwierig. Vor allem dann, wenn das Vertrauen von der oder dem Betroffenen zur Begleitperson noch nicht stark ist. Denn dann macht die Person einfach zu, ist nicht mehr zugänglich. So etwas zu hören, die eigenen gestörten Muster bestätigt zu bekommen, ist sehr schmerzhaft.

Das verstehen viele Leute nicht, sie sagen ‚Ich habe doch keine Essstörung, für mich gilt etwas anderes‘. Aber essgestörte Menschen sehen sich nicht so, wie sie wirklich sind, sie können das tatsächlich nicht. Sie sehen nicht, wie dünn sie sind, sondern haben das Gefühl, dick zu sein. Sie denken sich dann ‚Ich soll diese Riesenportion essen und die andere Person nur einen Salat, weil sie eh schon so viel gegessen hat? Was soll das? Ich bin eh schon so dick‘. Selbst, wenn die andere Person wirklich schon viel gegessen hat. Man darf auch neben jemandem mit einer Essstörung natürlich einfach einen Salat essen. Aber das Kommentar dazu, die Wertung, das macht es schädlich. Die Verletzung passiert nicht in der Tatsache, sondern in der Bewertung.

 

Wenn du unseren Sozialbegleiter:innen noch einen Tipp für die Begleitung von Menschen mit Essstörungen geben könntest, was würdest du sagen?

Legt den Fokus am besten gar nicht erst aufs Essen. Die Betroffenen denken wahrscheinlich sowieso schon so viel darüber nach, dass es für sie viel besser ist, einmal über andere Dinge zu sprechen. Man muss ja kein Eis essen gehen oder sich auf Kaffee und Kuchen treffen. Vielleicht geht man eher Billard spielen, in den Park oder ins Kino. Und ob der/die Klient:in dann im Kino Popcorn, Nachos oder gar nichts ist, ist egal, das sollte am besten nicht kommentiert oder diskutiert werden. Die Portion Popcorn oder der eine Kuchen im Café werden sie nicht heilen.

Teilt mit den Betroffenen die Dinge im Leben, die euch Freude bringen. Lasst sie daran teilhaben, an eurer Lebensfreude. Zeigt ihnen eure Welt ohne Essstörung um ihnen eine Vorstellung davon zu geben, wie es auch sein könnte. Das ist das Allerbeste für sie. Und natürlich zu sehen: Da ist jemand, der mich an ihrem Leben teilhaben lässt und gerne mit mir Zeit verbringt. Wenn man das vermitteln kann, dann wird etwas in ihnen heilen.